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Latrinenphantasien


Ich muss es zu meiner Schande gestehen, ich bin immer noch Stehpinkler. Irgendwann in der zweiten Hälfte der Sechziger bin ich aufgestanden und habe mich umgedreht. Es war eine Art Jungmannwerdung weit vor der Pubertät, die Idee hatte ich bestimmt nicht selbst, die kann eigentlich nur von meiner Mutter gekommen sein (oder habe ich etwa bei meinem Vater zugeguckt?).


Stehpinkler, die schon mal was geraucht haben - die Betonung liegt hier auf was - werden das Feeling kennen: man steht vor der Kloschüssel, pinkelt los und der blass- bis vollgelbe Strahl will einfach nicht mehr aufhören. Man spürt das Gefühl der Druckentladung in der Blase nicht so imminent wie sonst. Es ist mehr ein Flow als eine Explosion. Eher Amazonas als Niagarafälle. Vielleicht weil die Augen den festen, nicht abebbenwollenden Strahl fixieren und somit vom physischen Akt ablenken. Man pisst und pisst und pisst. Sekunden dehnen sich zu Minuten dehnen sich zu Stunden. Bis zum Ende der Welt. So nah bin ich der Ewigkeit in diesem Leben sonst kaum gekommen. Man muss dazu sagen, dass diese Ewigkeit eine sehr angenehme ist, wenn sie vorbei ist, dann macht das nichts. Man hat sie erlebt im Hier und Jetzt. Man verzeiht ihr, dass sie nur ein Spielchen mit einem getrieben hat. Dass es nur ein Teaser war. Das Leben kann danach ruhig weitergehen. Es ist absolut okay so.


Gestern abend ein anderer Trip. Außer Retsina waren keine bewußtseinsverändernden Substanzen im Spiel. Ich pinkel im Stehen wie immer und es hört wirklich nicht auf. Das stell ich mir zumindest vor. Das Klobecken läuft über. Ich gucke zur Seite. Die Waschküche läuft über. Ich werde weggeschwemmt, aus dem Keller raus nach oben getrieben. Die Welt läuft über. Die Sintflut ist da. Wir ertrinken alle. Hätte ich mich doch nur zum Sitzpinkler konvertieren lassen. Dann wär das alles bestimmt nicht passiert.


Und dann heute morgen vor dem Urinal eine Epiphanie. Ich pinkel in das weiße Keramikbecken, um genau zu sein auf das Drahtgitter, das den Abfluss vor Verstopfung durch urinalfremde Körper schützen soll. Und gucke mal etwas genauer auf das Gitter. Und was seh ich da? Ein kleines Männchen steht dort mit dem Rücken zu mir. Und was macht es? Ich bücke mich etwas runter, um besser zu sehen, mein Strahl wird leicht nach unten gelenkt genau auf das Männlein, das sich nicht mehr halten kann und fortgeschwemmt wird. Ich gucke auf meine Füße. Was sehe ich zu meinem Erstaunen? Ich stehe auf einem Metallgitter. Bevor ich 1+1 zusammenzählen kann, erwischt mich ein mächtiger Strahl von hinten.


 
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Bettler in Bonn


Heute war ich mal wieder in Bonn. Treffen der engen Familie. Eltern, Kinder, Partner und Kindeskinder. Altogether acht Personen. Als wir am Bahnhof vorbeifuhren, dachte ich an 1981. In dem Moment meinte ich, dass mein letzter Bonnbesuch ein Vierteljahrhundert zurücklag (stimmt nicht ganz bin 1984 mit dem 65er-Rahmen Gazellerad und um die 55 Kilo Gepäck auf dem Weg in die Türkei durchgeradelt). Im Oktober 1981 war die Friedensdemo im Hofgarten. Mit angeblich 300.000 Teilnehmern. Ich bin mit dem Zug aus Duisburg mit einigen Klassenkameraden angereist. Aus irgendeinem Grund wollte ich damals dabeisein, Politik war mir auch schon damals äußerst suspekt, egal ob die der Friedensbewegung oder die der Bundesregierung. Es hat ja dann auch absolut nichts gebracht, für mich war es ein Kollektiverlebnis wie für viele andere später die Love Parade, die ich mir dann so ziemlich gespart habe. Die Demo hat mir bestätigt, dass ich es mit Massenaufläufen nicht so habe.

Back to today. Die ersten Bettler - das waren Professionelle - sahen wir am Eingang zum Münster. Sie hatten rote Köpfe, hielten die Tür auf und waren hilfs- und auskunftsbereit. Anschließend saßen wir in einem Café-Restaurant am Marktplatz, die Sonne war gerade dabei den Kampf mit der dichten Wolkendecke zu gewinnen und blinzelte zu uns runter. Der nächste Bettler, ein junger, humpelnder Mann um die zwanzig mit Narben auf den Oberarmen erschien auf der Bildfläche. Seine story war simpel, er hatte sie schon oft erzählt. Von den Eltern in früher Jugend verlassen, viele Jahre in Waisenheimen zugebracht, wartete er jetzt schon seit Wochen auf einen Termin mit dem Sozialamt. Mein Vater gab ihm etwas, ich nicht, in solchen Situationen mache ich immer so Abwägungen, der Typ war jung, seine story war Quark, außerdem mag ich es nicht direkt angesprochen zu werden, da wird einem ein Freiheitsgrad genommen, den ich nicht hergeben will. Und dann ist es natürlich so, dass Bettler, die direkt ansprechen eine wesentlich höhere Erfolgsquote haben als die, die nur dasitzen mit ihrem Plastikbecher. Will sagen, der kommt auch ohne mich über die Runden. Und immer wieder dieser realistisch-brutale Gedanke, dass er bestimmt nicht mit dem Betteln aufhört und einen anderen Weg sucht, wenn ich ihn auch noch unterstütze. Klingt jetzt zynisch, aber dadurch, dass ich ihm nichts gebe, gebe ich ihm eher seine Würde zurück als dadurch, dass ich ihm ein Almosen gebe. Das er natürlich sowieso versäuft. Wer will es ihm verdenken.

Mein bester Freund gibt immer nur dem ersten Bettler, der ihm am Tag über den Weg läuft was, das hat etwas Calvinistisches, im Sinne von the early bird catches the worm, aber das ist bestimmt nicht das schlechteste Arrangement für beide Seiten.

Auf dem Markplatz war da auch noch ein Quetschkommodenspieler aus südlichen Gefilden. Der Sohn meiner Schwester ging los, ihm etwas zu geben. Als der Mann später die Runde der Tische machte, erkannte er Jonas wieder und bedankte sich aus der Ferne. Was man von dem jugendlichen Bettler nicht sagen konnte. Er kam wieder und hatte vergessen, dass er uns schon mal "abkassiert" hatte.

Und dann war da noch der Typ, der etwas von einem Nudelsalat für zwei neunzig oder drei neunzig schwafelte, den er sich vom Erbettelten kaufen wollte. Er war etwas angeschickert. Als ich ihm sagte, wir hätten gerade schon einem seiner Kollegen unter die Arme gegriffen, wurde er ausfallend. Beschimpfte mich, dass ich ihm ja sowieso nix gegeben hätte, womit er natürlich Recht hatte. Am Nebentisch provozierte er ebenfalls und es kam nur deswegen nicht zum showdown weil die Frauen am Tisch einschritten. Er bekam später noch einen Fünf-Euroschein oder mehr von einem älteren Mann.


 
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Rotten still life


Apfelernte 2006


 
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Wenn ich in Luxemburg mit meinem weißen Golf II an einer roten Ampel stand und Andrea mit seinem roten Kadett Kombi von hinten kam und meine hintere Stoßstange (natürlich aus Plastik) mit seiner Vorderen (ditto) ganz sacht touchierte. Um mir auf seine charmant lausbübische Art zu sagen, dass er da ist. Das waren so Momente, wo ich aus dem Grinsen nicht mehr rauskam.

Musste ich vorhin dran denken als jemand nicht sofort losfuhr nachdem die Ampel auf grün umgesprungen war. Der Hintermann hupte langgezogen. Für mich als Fußgänger hörte sich das an wie ein körperlicher Angriff. In solchen Fällen hupe ich immer ganz kurz. Das macht einmal "tüt". Die Leute entschuldigen sich dann meist nett mit den Händen und fahren ganz normal weiter als wäre nichts gewesen.


 
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Lesen und hören


Die Eltern waren nur allzu bereit, die Behandlung bei Frau Dr. Karanth auszuprobieren, denn sie schöpften viel Hoffnung. Die ersten paar Tage vergingen mit Fragen und Antworten. Sie schrieb Fragen auf wie: "Warum sprichst du nicht?" Der Junge antwortete: "Das würdest du nicht verstehen." Damit gab die Dame sich nicht zufrieden, und sie beharrte auf ihrer Frage, indem sie bemerkte: "Ich möchte es aber verstehen, wenn du es bitte erklären würdest." Der Junge sagte:"Ich höre den Klang 'om' so oft, dass andere Geräusche verloren gehen." Es war keine ganz unehrliche Antwort, weil der Junge sich einbildete, ein ständiges Summen zu hören, das ihn immer beschäftigt hielt, wenn er gerne abgeschaltet hätte. Aber die Antwort sollte auch Eindruck auf die Dame machen. Allerdings erwies sie sich als harte Nuss. Sie stellte weitere Fragen, sagte, sie sei Agnostikerin, und er müsste einen besseren Grund finden als diesen. Welchen Grund konnte der Junge, der ja sprechen wollte, aber nicht wusste, wie man das macht, angeben? Also schrieb er auf: Als Autist habe ich das Recht, nicht sprechen zu können. Dann, um die Sache abzuschließen, legte er die Hand auf das Blatt und fuhr die Zeilen mit dem Finger nach. Die Dame zeigte keine Ungeduld.

S. 54/55 aus Der Tag, an dem ich meine Stimme fand. Ein autistischer Junge erzählt von Tito R. Mukhopadhyay

Ich sitze mit offenem Fenster (zum Garten) auf dem Klo und lese in dem zitierten Buch. Plötzlich ein dumpfes Plopp-Geräusch, das ich erst nicht zuordnen kann. Es reißt mich aus meiner Lektüre, die Synapsen brauchen eine Sekunde bis sie eine sinnvolle Interpretation ins Gehirn übertragen. Ein verfaulter oder madiger Anhalter ist vom Apfelbaum gefallen. Als wollte er mir sagen, wach auf Alexander, nicht lesen sollst du, nicht nachdenken, wenn du dein Leben ändern willst. Fallen lassen solltest du dich.


 
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Heute morgen gejogged. Rehe aufgescheucht. Die genauso wie die Karnickel noch so benommen sind, dass sie nicht zur Seite wegspringen, sondern erst einmal eine Weile auf dem Weg vor dir entlanglaufen. Naive Natur. Den Schrei eines Raubvogels gehört. Es ist ein jämmerlicher, furchterregender Schrei. Ein Killerschrei, der nach lebendigem Fleisch ruft. Niemanden getroffen. Hätte nackt sein können, keiner hätte es gesehen. Zeit war ok, nothing special. 34 Minuten+. Nächstes Mal drei Runden statt zwei. Und um Punkt 6 loslaufen. Die Schönheit des jungfräulichen Morgens. Wenn er dir gehört. Wenn dein Lächeln sehr breit wird, wenn du jemanden auf der zweiten oder dritten Runde triffst.


 
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wie sich die welt tag für tag weiter von mir entfernt.


 
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stille. ist nicht silence. ist viel ruhiger. ist nicht abwesenheit von geräusch. ist kein imperativ. kann man nicht erzwingen. gibt es kaum noch. als wir uns nach häusern in der rhein-main gegend umgesehen haben, habe ich immer gelauscht, ob man eine straße hört. es gab kein einziges haus, wo man keine autos (zumindest in der ferne) gehört hat. wir haben ein haus gekauft, das an einer alten hauptstraße liegt. die neue schnellstraße liegt 200 meter weit weg. man hört sie nur nachts, wenn längere zeit niemand auf der alten hauptstraße (theoretisch tempo 40) gefahren ist. ein hintergrundrauschen, das ich abends ersehne.


 
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das spiel gestern abend zu dritt hier gesehen. sie sagt schon nach einer minute, was ist denn da los? wieso verlieren die denn dauernd den ball? das spiel wie halbfinalspiele so sind. nicht schön, nicht torreich, aber fair und kein rumgebolze. die italiener von anfang an klar die bessere, straightere, sicherere mannschaft. dieses mal wird direkt abkassiert, die bedienung meint, während der wm wären bei ihr schon zu viele abgehauen, ohne bezahlt zu haben.

als das tor fällt, völlige stille. das gegröhle und gepfeife hat endlich ein ende. so sollten fußballabende immer sein. fast schon meditativ.

sehe nur noch die rücklichter der s-bahn von 1/4 vor 12, gehe nochmal zurück in die stadt. in der fußgängerzone ein penner, der mit einer taschenlampe in die abfallkörbe leuchtet. ein türkischer bierzapfer, der mir sein naturtrübes bier um 50 cent billiger gibt als es laut preistafel kostet. die nächste s-bahn hat eine 1/4 stunde verspätung, die massen drängen sich auf dem gleis. sie kommen von der mainarena. ich stehe die 18 minuten im gang, höre american analog set auf der jukebox und drehe zigaretten bis der tabak alle ist. am ende habe ich 12 stück. der weg nach hause durch die laue sommernachtsluft. ein windchen sorgt für ein bisschen erfrischung.


 
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Dass man die Tore der Mannschaft, die man unterstützt, im Stadion beklatscht, leuchtet mir ja durchaus ein. Die Akteure sind ja immerhin vor Ort und können die Publikumskundgebungen eventuell sogar mitkriegen. Aber für wen klatschen die Leute, wenn sie das Spiel auf einer Leinwand verfolgen? Für das eigene Land? Für die Stimmung? Für sich selbst? Für die Technik(er)? Es waren übrigens fast nur relativ junge Frauen, die das heute taten als ich das Spiel sah. Identifizieren sich die Leute so stark mit dem Spiel und der Mannschaft, dass sie nicht bemerken, dass da nur eine Übertragung abläuft? Oder dass ihnen das einfach egal ist? Erinnerte mich etwas an die unglaublichen Heulszenen im Publikum am Ende des Films Rocky II, den ich 1979 in den USA im Kino sah. Das waren damals wirklich nur Frauen, wenn ich mich recht erinnere. Hat mir einen richtigen Schrecken eingejagt. Dieses Mal hat mich das Klatschen allerdings nur befremdet.


 
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