close your eyes
 
[travel]

"Ich hatte die Grenze überquert und fuhr nun nach Osten, Richtung Quetta."


Vorgestern abend Rudolf von Waldenfels über die grenze verschlungen. Etwas irritiert vom Untertitel ein reiseroman. Zum einen wird offensichtlich eine Radfahrt nach Indien und weiter ostwärts geschildert, die der Autor unternommen hat, zum andern qualifizieren 150 Seiten in relativ großer Schrift nicht unbedingt für einen Roman. Egal. Das Buch ist faszinierend. Und unglaublich realistisch auch wenn viele Passagen eher wie ein surrealer Fiebertraum anmuten. Hochinteressant für einen alten verhinderten Indienradler wie mich.

Es geht nicht um Indien oder die Spiritualität, die man mit dem Morgenland verbindet. Da ist niemand auf der Suche nach seinem Guru. Es geht vielmehr um einen reinen Egotrip. Da ist jemand losgefahren, um ans Limit zu gehen und sich selber näherzukommen. Der ein Fremder bleiben will in der Fremde und sie aus seiner Perspektive beobachten und beschreiben will. Man weiß nicht, ob er vor etwas wegläuft, es ist aber auch nicht wichtig. Wie wenig Kommunikation es mit den Menschen gibt, die er unterwegs trifft. Er beschreibt sie oft wie elephant men. Wie Wesen, die aus der Welt gefallen sind. Und wenn er jemanden mal tiefer kennenlernen will, wie den schwarzen merikanischen Mönch in Nordthailand, dann klappt das nicht, dann gibt es nur den Sex. Das Körperliche immer wieder. Natürlich die Anstrengung, der Schweiß, der hinunterrinnt beim Radfahren die Berge hinauf. Dann das physische Begehren, das sich in der Menge aufschaukelt, sie elektrisiert. Und schließlich die sexuellen Abenteuer mit Frauen und Männern. Von den Frauen (meist Prostituierte) will er außerhalb des Geschlechtsverkehrs nichts wissen, auch wenn sie mehr von ihm wollen. Bindungen sind nicht angesagt. Das erinnert alles ein bisschen an die Popliteratur der 90er, insbesondere Christian Kracht, aber dies sind nur Teilaspekte. Einen weiten Raum nehmen Naturbeschreibungen im Buch ein. Die verschiedenen Farben der Wüste zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten werden z.B. ausgiebig geschildert. Das ist weniger mein Fall, für so etwas habe ich oft einfach nicht genug Vorstellungsvermögen. Synästhesie spielt da auch viel rein.

Meine drei Lieblingspassagen. Zum ersten die Prozession beim Tempel in Amritsar, die mir beim ersten Lesen so vorkam als hätte ich schon einmal über dieses Hörphänomen irgendwo gelesen (oder geträumt?):

Ich schlief im großen Gästehaus gegenüber dem Tempel; und um vier Uhr, noch vor der Morgendämmerung, wurde ich durch ein Geräusch geweckt, dessen Ursache ich mir nicht erklären konnte. Es klang wie das leise Rauschen des Meeres, das in der Nacht ans Ufer rollt; es klang wie der Flügelschlag eines gewaltigen Vogelschwarms. Ich glitt in meine Kleider und sah hinaus. Draußen, im riesigen Innenhof des Gästehauses, war alles voller Menschen; in einer stummen Prozession strebten Tausende von schweigenden Pilgern der großen Tempelanlge zu, aus deren Richtung eine dünne Musik zu hören war. All diese Menschen gingen barfuß - ihre nackten Füsse hatten auf dem Marmor das Geräusch erzeugt, das mich aufgeweckt hatte. ...

Dann der in seiner Alptraumhaftigkeit an manche Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe erinnernde Zustand des Klos im Hotel in Multan:

Meine Notdurft verrichtete ich, wie die anderen Gäste auch, in einem Saal, dessen Gestank einem den Atem nahm und der mich noch heute in meinen Träumen aufsucht.

Es war unmöglich, ihn trockenen oder gar sauberen Fußes wieder zu verlassen. Ein Matsch aus Urin und Fäkalien bedeckte den Boden, den man auch an der Matte, die vor der Tür lag, nicht abstreifen konnte. Die Toiletten bestanden aus kreisrunden Öffnungen im Betonboden, die ohne Trennwände über den Raum verteilt waren; man verrichtete sein Geschäft, schutzlos den Blicken der anderen preisgegeben. Auch dieser Raum war fensterlos; er wurde beleuchtet durch eine Neonröhre, die bei Tag und Nacht brannte, es sei denn, es kam zu einem der häufigen Stromausfälle. ...

Es fehlt nur noch, dass es stockduster wird während der Darmentleerung in diesem Höllenraum.

Und schließlich die wunderbar luzide Beschreibung eines Haschischrausches, in dem der Autor so tief in ein Buch eindringt, dass er meint, es selber geschrieben zu haben. Der damit endet, dass er einzelne ungegenständliche deutsche Wörter ganz langsam laut ausspricht und sie sich bildlich vorstellt. Eine typische Haschidee, normalerweise hat man sowas nach dem Rausch am nächsten Tag vergessen, Waldenfels schafft es irgendwie, dies dem Vergessen zu entreißen. Vielleicht ist es ja wirklich nur ein Roman...


 
 

Spannend!

Es ist klasse zu lesen, was Du schreibst, Alex! Ich kenne den Autor nämlich persönlich + weiß einiges über den Hintergrund des Buches...Ihr könnt gerne fragen!

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